Der Schattenspieler

Der Schattenspieler
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IAN CURTIS war ein begeisterter Musikhörer und Literaturkenner. Er liebte Dub und Krautrock, Iggy Pop und David Bowie, interessierte sich für das Altertum und moderne Fantasy-Literatur. In seinen Texten für Joy Division fügte der Sänger diese Welten zu einer düsteren Poesie zusammen, die nichts mit ihm selbst zu tun zu haben schien. Erst in den letzten Wochen vor seinem Suizid im Mai 1980 schälte sich aus den Gedanken eine verzweifelte Realität heraus. André Boße begibt sich auf Spurensuche.

Die anderen nannten ihn den „Spotter“, einen Späher. Immerzu sei Ian Curtis auf der Suche gewesen, immerzu habe er Ausschau gehalten, nach Klängen, Gefühlen, Geschichten. Diese Geschichten steckten schon immer in ihm, seine Frau Deborah sagt, er habe schon als junger Mann einen Roman schreiben wollen, dazu Liedtexte und Gedichte. Erst mit der Gründung von Joy Division kam das dann alles zusammen. Als Sänger dieser Band erschuf Ian Curtis, mit Hilfe der Musik von Bernhard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris seine eigene, sonderbare, dunkle Welt. Man verbindet mit der Person Ian Curtis automatisch eine gewisse Schwermut, doch die schöpferische Tätigkeit fiel ihm leicht. So leicht, dass sich die anderen verwundert fragten, wo der Ursprung dieser kreativen Kraft liegen mochte.

Zumal Curtis im normalen Leben ein ganz anderer Typ war als derjenige, der abends auf der Bühne stand. Diesen wie elektrisiert wirkenden schlaksigen Mann, mit seinen willkürlichen und zappeligen Bewegungen, ausgeführt im Stand, die Augen halb verschlossen, als wollten sie einen Zustand zwischen Schlaf und Wachsamkeit erzeugen – diesen Mann gab es nur auf der Bühne. Abseits davon war er zurückhaltend, beobachtend. „Ich konnte es nicht glauben, als ich Ian zum ersten Mal auf einer Bühne sah“, schilderte es Morris, der Schlagzeuger von Joy Division, „diese Transformation in eine rasende Windmühle.“

Jon Savage, einer der wichtigsten Pop-Chronisten Großbritanniens, stellt dieses Zitat an den Anfang seines Buches The Searing Light, The Sun & Everything Else, das im April unter dem Titel Sengendes Licht, die Sonne und alles andere auch auf Deutsch erscheinen wird. Diese Oral History erzählt die Geschichte der Band ausschließlich anhand von Zitaten der Musiker sowie von Leuten aus dem Umfeld der Gruppe. Man erfährt viel auf diesen über 300 Seiten. Und doch ist man am Ende ratlos. Es sind viele Bücher über Curtis geschrieben worden, es gibt TV-Dokumentationen und einen Spielfilm. Sein kurzes Leben ist gut ausgeleuchtet, so scheint es. Und doch gibt Curtis selbst den Menschen, die ganz nahe an ihm dran waren, die ihn geliebt und mit ihm gearbeitet haben, bis heute Rätsel auf.

„Ich weiß bis heute nicht, wo Joy Division herkamen“, zitiert Biograf Savage Tony Wilson, den Entdecker der Band und Chef ihres Labels Factory, eigentlich ein Fernsehmann, der Ende der 70er zur bedeutenden Person für die britische Vinyl-Kultur wurde, weil er früh verstand, welches enorme künstlerische Potenzial in der Verbindung von Musik und Design liegt – zwei Kunstrichtungen, die auf den Schallplatten von Factory zusammenflossen. Woher also kam die Band Joy Division? Wie konnte es passieren, dass diese vier Männer diese Band gründeten, deren Wirkung auf die Rock- und Popszene bis heute ungebrochen groß ist – und das, obwohl die Gruppe kaum mehr als 50 Lieder aufgenommen hat?

Die Wahrheit scheint zu sein: Egal, wie viele Bücher und Artikel geschrieben, Zeitzeugen befragt oder Filme gedreht werden, je näher man der Sache also kommt, desto mehr neue Fragen ergeben sich. Diese Arbeit bleibt endlos. Aber das hält einen nicht davon ab, immer wieder neu über Ian Curtis nachzudenken, über seine Texte und seinen Gesang, über seine Funktion innerhalb der Band und seine Auftritte, über die Dinge, die ihn beeinflusst haben und die er beeinflusst hat. Und auch über die psychischen und physischen Krankheiten, unter denen er litt, die Epilepsie und die Depression, die zu seinem Suizid am 18. Mai 980 führten: Curtis nahm das Leben im Alter von 23 Jahren. Das Nachdenken über ihn ist gerade deshalb so interessant, weil sich auf viele Fragen logische Antworten nicht finden lassen. Weil es zwar Indizien gibt, die dieses oder jenes erklären, die zwei großen Fragen aber unbeantwortet blieben: Wo kam all das her? Und warum endete es so tragisch, so plötzlich?

Erster Einfluss: Punk

Ohne die Explosion des Punk wäre Curtis niemals Sänger geworden, das gilt als sicher. Wie bei vielen anderen Bands liegt dem Gründungsmythos von Joy Division ein Konzert der Sex Pistols zugrunde. Im Juni 1976 war das, die Band spielte in Manchester. Sumner und Hook waren da, ließen sich infizieren vom Gedanken, dass es ab nun anders abläuft, dass ab jetzt jemand, der in einer Band spielt, kein Musiker mehr sein muss, dass die Bühne kein Ort für göttliche Virtuosen mehr ist, sondern für diejenigen, die den Mut haben, dort ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Irgendjemand zählte später, dass es im direkten Anschluss an dieses Konzert mehr als 70 Bandgründungen in Greater Manchester gegeben habe.

Sechs Wochen später, im Spätsommer 1976, kamen die Sex Pistols noch einmal in die Stadt, diesmal spielten die Buzzcocks aus Manchester im Vorprogramm, was noch mal unterstrich: Diese Revolution schloss niemanden aus. Nun war auch Curtis da, sein späterer Bassist Peter Hook hatte sich zwischen den Gigs bereits ein Instrument gekauft und daran erste Versuche unternommen. Punk war das TNT, das die Barriere zwischen Musiker und Publikum sprengte – nach der Detonation strömten die Leute aus dem Auditorium in die Proberäume, schrieben Songs, nahmen Demos auf, bereiteten sich auf Konzerte vor, pressten erste Singles. Und das fast immer als Autodidakten, denn wenn jeder in einer Band sein konnte, was gab es dann anderes zu tun, als genau dieses Angebot anzunehmen?

Zweiter Einfluss: Manchester

Curtis und Joy Division konnten nur aus der Stadt Manchester kommen. Nicht aus London, nicht aus Paris. Vielleicht auch noch aus West-Berlin oder Glasgow, aber sicherlich nicht aus New York oder Los Angeles. Manchester ist der Geburtsort der Industrialisierung, hier im Nordwesten Englands gab es schon vor Erfindung der Dampfmaschine etliche Manufakturen, die die Wasserkraft der kleinen fließenden Gewässer sowie die geografische Lage nahe der Hafenstadt Liverpool ausnutzten, um Textilien zu produzieren und die Welt zu verschiffen. Als die Dampfmaschine dann erfunden wurde, wuchsen die Betriebe zu Fabriken heran, die Produktivität stieg, das Geschäft florierte, Arbeiter wurden gesucht – und mies bezahlt. So entstand in Manchester ein frühes Proletariat, das wiederum sozialistische Denker anzog, so auch den Deutschen Friedrich Engels, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Manchester sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England verfasste.

Weil die Metropole immer weiterwuchs und Konzepte benötigt wurden, um dem Proletariat ein würdevolles Leben zu ermöglichen, entstand rund ums Zentrum herum die Region Greater Manchester, ein Gürtel mit Vorstädten, die früher noch eigenständige Dörfer gewesen waren, nun schnell wuchsen und in diesen explodierenden Industriestandort eingegliedert wurden. In Orten wie Salford, Macclesfield oder Stretford entstanden so Wohn- und Industrieparks; die Strukturen waren darauf angelegt, Menschen Arbeit und Wohnungen zu geben. Städtebaulich war das eine Pionierleistung. Manchester galt als Musterbeispiel einer modernen City, und an vielen anderen Orten wurden die Konzepte kopiert, auch in der Hauptstadt. Schon immer galt der Satz: „Was man in Manchester heute denkt, wird morgen in London umgesetzt.“

„Wir waren immer auf der Suche nach Schönheit, weil wir in an einem so hässlichen Ort aufgewachsen waren.“ – Bernhard Sumner

Für die Freizeit dagegen gab es nicht viele Angebote, allein schon deshalb, weil Freizeit für die Arbeiterschaft ein sehr limitiertes Angebot war. Was es gab, waren Kneipen für den Suff, dazu Gemeindezentren der Kirche, Versammlungsorte der Gewerkschaften, politische Büros. Woran wenig Gedanken verschwendet wurde: an eine natürliche Umgebung. Bernard Sumner sagte einmal, er habe als Kind Bäume nur aus Büchern gekannt, sie seien ihm wie Fabelwesen vorgekommen, exotische Gewächse aus fremden Ländern – und als er dann zum ersten Mal einen Baum sah, sei er neun Jahre alt gewesen. Ähnlich exotisch mutete es den jungen Leuten aus diesen Vorstädten damals an, eine Band zu gründen, denn wie sollte es funktionieren, so zu klingen wie Pink Floyd oder Genesis, so auszusehen wie T. Rex oder Roxy Music? Man verband Manchester damals mit dem Kürzel „S & U“. Das „S“ stand für die Slums, wie die Wohngegenden für die Arbeiter genannt wurden, und des „U“ für „unemployment“, also für die Arbeitslosigkeit. Diesem grauen Trabantenleben mit Hilfe der Musik zu entkommen? An diese Möglichkeit glaubte vor 1976 kaum jemand. Man glaubte, es fehlte das Talent und Virtuosität. Man wusste, es fehlte an Geld für Equipment, an Proberäumen und Möglichkeiten aufzutreten. Pop und Rock waren elitäre Kulturrichtungen. Bis eben die Sex Pistols durchs Vereinigte Königreich zogen und das Leben vieler junger Leute auf den Kopf stellten. Überall im Land. Und besonders intensiv und nachhaltig in Manchester.

Was, so sagt es Sumner, eben auch etwas mit den fehlenden Bäumen zu tun hat. Denn wenn man in einer solchen Umgebung aufwächst, dann steigert sich die Sehnsucht nach etwas, das nicht grau und abstoßend ist: „Wir waren immer auf der Suche nach Schönheit, weil wir in an einem so hässlichen Ort aufgewachsen waren. Um uns herum gab es nur Fabriken, nichts war hübsch, wirklich gar nichts.“ Sumner vergleicht die sinnlichen Erfahrungen mit einem Entzug – einem Schönheitsentzug also, ausgelöst von der „brutalen Landschaft“. „Wenn du in dieser Situation etwas Schönes hörst oder siehst, sagt dir dein Gehirn: ‚Oh, eine neue Erfahrung‘, und das ist dann wirklich aufregend.“ Sich mithilfe der Musik auf der Suche nach Schönheit zu machen – wenn das eine Definition von Pop ist, dann waren Joy Division eine Popband, jedoch ohne jemals eine Strategie dafür gehabt zu haben. Der New Musical Express (NME) beschrieb es 1979 so: „Wenn das Pop ist, dann rein zufällig.“

Dritter Einfluss: Flucht

Was macht die Jugend, wenn sie zu Hause die Schönheit vermisst? Sie nimmt Reißaus. Für Sumner funktionierte das mit Hilfe eines Motorrollers, auf den er gespart hatte und mit dem er nun raus aufs Land fuhr, um zu entdecken, dass es jenseits der Fabriken tatsächlich auch eine schöne nordenglische Landschaft gab, die noch nicht in die Hände des Kapitalismus gefallen war. Auch Curtis sagte 1979 im Interview mit dem NME, dass ihm immer klar gewesen sei, dass er eines Tages flüchten würde, raus aus dem Dreck, raus aus dem Elternhaus, in dem er und seine Eltern sich wenig zu sagen hatten.

Anzeichen für eine schwierige Kindheit gab es indessen keine. Eher war es eine elendig öde Zeit, die Curtis als Heranwachsender verbrachte, weshalb die Fluchtgedanken davon motiviert waren, der Langeweile zu entkommen. Mit 16 oder 17 dachte Curtis so: „Sobald wir abhauen können, werden wir unten in London sein und dort Dinge machen, die niemand sonst macht.“ Die Wartezeit bis zur potenziellen Fluchtgelegenheit verbrachte er mit Tagträumereien, eine Tätigkeit, die sich auch anbot, die Monotonie der Aushilfsjobs in den Fabriken erträglich zu gestalten. „Ich musste für diesen Job nicht denken“, sagte er dem NME, „also konnte ich mir das kommende Wochenende ausmalen und mich fragen, wofür ich mein Geld ausgeben und welche LP ich mir kaufen würde.“

Zum Shopping zog es Curtis zu Rare Records, später bekam er dort einen Job hinterm Tresen. Der Laden war eine ziemliche Hipster-Bude, erinnert sich Mark Reeder, Musiker, Regisseur und Chronist der New-Wave-Jahre in Großbritannien und später in Berlin. „Die Verkäufer bildeten sich ein, etwas Besonderes zu sein, sie waren arrogant und wenig hilfreich. Schon wenn man den Fehler machte, einen Songnamen falsch auszusprechen, wurde man kollektiv der Lächerlichkeit preisgegeben.“ Curtis allerdings sei anders gewesen. Er war der jüngste Angestellte bei Rare Records, ausgestattet mit einem großen Wissen über Reggae und Dub-Platten, deutschen Krautrock und Proto-Punk aus Amerika.

Curtis war es auch, der später seinen Bandkollegen Sumner und Hook die Vielfalt der Rock- und Pop-Welt näherbrachte. „Wir zwei hörten damals noch Pop-Reggae, Led Zeppelin und Deep Purple“, sagt Hook, „und Ian stellte uns andere Dinge vor, Bands wie Can, Kraftwerk oder Velvet Underground. Er war dabei nicht aufdringlich oder arrogant, und wir empfanden es als toll, mit jemandem zusammen zu sein, der unsere musikalische Bildung komplettierte.“ Interessant ist der Einfluss, den Krautrock und deutsche frühe Electronica auf Curtis ausübte. So zählte ein T-Shirt der in Hamburg gegründeten Psychedelic-Prog-Band Nektar zu seinen Lieblingskleidungsstücken, er trug es auf vielen Fotos. Laut Hook verbrachte Curtis mehrere Stunden damit, Joy Division eines Abends in die musikalische Welt Kraftwerks einzuführen, einem Stück wie Isolation von der zweiten LP Closer hört man diesen Einfluss stark an. Als schließlich Stephen Morris zur Band hinzustieß, fiel Curtis’ Vorliebe für kosmische Klänge aus Deutschland bei ihm auf fruchtbaren Boden. Als Schlagzeuger war Morris Fan von Klaus Dinger und dessen Alben mit Neu!, das wirbelnde Pattern von Atrocity Exhibition ist genauso eine Hommage in diese Richtung wie der stoische, schnelle Beat der Single Transmission.

Vierter Einfluss: Literatur

Abseits der Musik besaß Curtis eine Leidenschaft für Bücher aller Art. Da war zunächst sein Interesse für Geschichte im Allgemeinen und besonders die Ritter mit ihren Abenteuern. Um mehr zu erfahren, verbrachte Curtis schon als Teenager viel Zeit in Buchläden. Später ließ er sich von seinen Mitlesenden ins Werk von Autoren einführen, die mit ihren Worten fremde und seltsame finstere Welten entstehen ließen. Wer damals etwas auf sich hielt, hielt sich in „lefty bookshops“ auf, wie man dieses Gegenangebot zu den traditionellen Buchhandlungen nannte. Man las und diskutierte und leitete aus diesen Dystopien eine beißende Sozialkritik ab.

Heiß gehandelt wurden in diesen Buchländen die Werke von Philip K. Dick und William Burroughs, Friederich Nietzsche und Franz Kafka, Hermann Hesse und Jean-Paul Sartre, Nikolai Gogol und Fjodor Dostojewski, T.S. Eliot und J.G. Ballard. Curtis war Teil dieser Lefty-Bookshops-Clique, wobei er schnell ahnte, dass es keinen Unterschied macht, ob man ein Burroughs-Buch liest oder eine Platte von Velvet Underground oder den Stooges hört: Stets geht es darum, emotionale und körperliche Grenzerfahrungen zu beschreiben und sich als Individuum in den Zusammenhang mit der Gesellschaft zu stellen, so schmerzhaft dieser Prozess auch sein mag.

Als Texter für Joy Division verarbeitete Curtis später diese Einflüsse sehr direkt. Colony von der Closer-LP bezieht sich auf die Kafka-Erzählung In der Strafkolonie, Atrocity Exhibition leiht sich den Titel von einer Sammlung miteinander verbundener Kurzgeschichten von J.G. Ballard, einem Vorreiter der neo-apokalyptischen Science-Fiction- und Fantasy-Literatur in Großbritannien. In vielen seiner Arbeiten beschreibt Ballard (der selbst stark von Burroughs beeinflusst war), wie sehr die Massenmedien und die moderne Politik die Identitäten eines Menschen fragmentieren; der Handlungsrahmen der Kurzgeschichten von Atrocity Exhibition ist das Schicksal eines Mediziners aus einer psychiatrischen Anstalt, der selbst Psychosen erlebt und in diesen zwanghaft versucht, Weltereignissen wie dem Tod von Marylin Monroe oder Attentat auf John F. Kennedy eine persönliche Bedeutung zu geben. Der Trip kulminiert im Bestreben des Protagonisten, einen Dritten Weltkrieg anzuzetteln, wobei Ballard seinen Helden als einen Menschen beschreibt, der ab einem gewissen Punkt nicht mehr zwischen äußeren und inneren Landschaften unterscheiden kann.

Curtis betrachtete die 15 Geschichten dieses Buches als ein Gesamtkunstwerk, ähnlich wie die acht Songs von Iggy Pops The Idiot oder den zehn Songs von Bowies Aladdin Sane. Später stellte er auch an die LPs von Joy Division den Anspruch, ein Gesamtkunstwerk zu sein, das bis an die Extreme des menschlichen Daseins heranreicht. Der Text von Atrocity Exhibition liest sich wie ein begleitendes Gedicht zur Sozialkritik im Buch von J.G. Ballard: „Asylums with doors open wide/ Where people had paid to see inside/ For entertainment they watch his body twist/ Behind his eyes he says, ‚I still exist‘.“

Psychiatrische Anstalten werden zu Entertainment-Arenen, in denen moderne Gladiatoren des Wahnsinns um ihr Überleben kämpfen, angeheizt von einer vergnügungssüchtigen Meute. Brot und Spiele im Hier und Heute, unbarmherzig und zynisch. Sagen wir es so: Deep Purple und AC/DC sangen über andere Dinge. Als Textdichter war Curtis in der Lage, die Isolation des modernen Individuums in der Moderne zu beschreiben, verbunden mit Sozialkritik sowie – und das macht ihn besonders – einem hohen Maß an Romantik: „Take my hand and I’ll show you what was and will be“, heißt es am Ende von Atrocity Exhibition, und auch wenn das, was der Protagonist hier zeigen will, entsetzlich sein wird: Man ist zumindest in diesem Szenario nicht alleine, man wird buchstäblich an die Hand genommen.

Ein Lied ohne gehaltvollen Text erschien Curtis sinnlos, so beschreibt es seine Frau Deborah in einem Interview mit dem Guardian. „Wenn wir eine Platte auflegten, mussten wir beim Hören auf alles achten“, erinnert sie sich. „Er sprach dann darüber, was die Texte zu bedeuten haben, welche Geschichte dahintersteckt. Lieder, die keine Bedeutung besitzen, mochte er gar nicht.“ Über seine eigenen Texte hingegen sprach Curtis nicht. Nicht in Interviews, auch nicht mit seinen Bandkollegen oder Deborah. Für sie war es ein wie ein zweiter Schock, als sie wenige Wochen nach dem Suizid ihres Mannes – das Paar war seit 1975 verheiratet, 1979 kam ihre Tochter zur Welt, wegen einer Affäre mit der belgischen Musikjournalist Annik Honoré stand die Ehe auf der Kippe – schließlich die Texte der posthum veröffentlichten LP Closer hörte: „Die Lyrics waren so dunkel, so unglaublich dunkel. Man fragt sich, wie konnte es sein, dass er mit niemandem darüber reden konnte?“ Das fragt sich heute wohlgemerkt seine Frau. Die Verschlossenheit von Curtis bleibt ein großes Geheimnis. Anvertrauen konnte er sich offenbar nur dem Papier. Er schrieb nicht viel, so viel legt sein Nachlass nahe. Aber was er schrieb, schien wie in Stein gemeißelt.

Curtis interpretierte Punk und daran anschließend New Wave als Möglichkeit, Musik endlich wieder mit Dichtkunst zu verbinden. „Poesie galt damals als altmodisch“, so Deborah Curtis, „und es schien uns ein logischer Fortschritt zu sein, sie in Musik aufgehen zu lassen.“ Wenn ihr Mann länger gelebt hätte, so schätzt sie, hätte er bald genug vom Tourleben gehabt. „Ich denke, er hätte weitergeschrieben, ohne seine Kunst aufführen zu wollen. Und wenn er 40 oder 50 Jahre alt geworden wäre, dann hätte er wahrscheinlich sein erstes großartiges Buch geschrieben.“

Fünfter Einfluss: Iggy Pop

Und doch, wenn Curtis auf der Bühne der Spot erfasste, dann war er da. Die Konzerte, die Joy Division nach der Veröffentlichung von Unknown Pleasures spielten (dem einzigen Album, der Band, dessen Erscheinen Curtis erlebte), waren bezeichnend: Sumner, Hook und Morris standen im Dunkeln, Curtis im Licht, in seiner typischen Pose, mit den halb verschlossenen Augen, die Hände ums Mikro gewickelt, der Körper ekstatisch-epileptisch tanzend. „A mad dervish on motion“, wie der NME schrieb, halb huldigend, halb ehrfürchtig. Inspirieren ließ sich Curtis hier von Iggy Pop, den er 1977 live in Manchester gesehen hatte, auf der Tour, bei der Bowie Keyboard gespielt hatte. Der Fotograf Kevin Cummins, der viele der ikonischen Fotos von Curtis geschossen hat, sagte später, dieser Gig habe für die Szene in Manchester die gleiche große Wirkung gehabt wie das Konzert der Sex Pistols im Jahr zuvor: „Die Show hat viele Leute wachgerüttelt, Iggy hatte eine hypnotisierende Wirkung auf dieser Tour, eine solche Performance hatte ich nie zuvor gesehen.“

Auch Curtis hatte genau zugeschaut. In Iggy Pops elektrisierenden Bewegungen fand er eine Möglichkeit, sich selbst auf der Bühne Ausdruck zu verschaffen – nur blieb er eben auf der Stelle stehen, während Iggy auf der Bühne einige Meter machte. Es ist interessant, sich auf Youtube Liveclips von Joy Division und Iggy Pop aus dieser Zeit anzuschauen, die Parallelen sind offensichtlich. Der größte Unterschied: Curtis hat sein Hemd immer anbehalten. Ohnehin trugen er und seine Bandkollegen sehr normale Kleidung. Kein Chelsea-Punk-Chic, keine Uniformen, kein provozierender Nazi-Dress: Joy Division sahen aus, wie die blassen Jungs aus den linken Bücherläden, sie griffen nicht in die Trickkiste der Punk-Bewegung, um anzuecken – mit Ausnahme ihres Bandnamens vielleicht, benannt nach der Sektion in den Konzentrationslagern, in denen die Nazis Zwangsprostitution und Sex-Sklaverei organisieren. Der jüdische Holocaust-Überlebende und Autor Yehiel De-Nur hatte diese Bereiche in seiner Novelle House Of Dolls beschrieben.

Ansonsten verzichteten Joy Division auf klare Codes oder Informationen, die einen schnellen Zugang erleichtern. Was den Platten zum Beispiel fehlt, sind Lyrics-Sheets. Viele Punk- und New-Wave-Bands legten unterdessen großen Wert darauf, die Texte beizulegen, vielen ging es darum, Botschaften zu verkünden. Curtis verweigerte den Abdruck, seine Band verstand ihn, und gemeinsam beschlossen sie, sich auch in Interviews nicht zu den Texten zu äußern. „Man fragt uns, wovon unsere Songs handeln“, sagte Hook 1979 im NME. „Aber was, wenn wir es sagen, und es gibt jemanden, der beim Lesen unserer Interpretation entdeckt, dass er den Text bislang anders verstanden hatte. Wäre es nicht falsch, jemanden, der sich bis dahin eigene Gedanken gemacht hatte, derart fallen zu lassen?“

Das große Rätsel

Für Curtis war ein Song immer genau eine Möglichkeit, die Welt zu fassen zu bekommen. So, wie jede Geschichte, Erzählung, jeder Roman eine weitere Möglichkeit darstellt. Was er als Textdichter verabscheute, war die Verallgemeinerung. Im NME veranschaulichte er so: „Da gibt es eine Band, die einen Song über Frauen geschrieben hat, die zu Hause bleiben müssen, und dann sagt sie: ‚Das hier ist ein Song über alle Frauen, die ab jetzt rausgehen sollten, um zu tun, was sie wollen.‘“ Curtis hielt diesen Selbstermächtigungsmechanismus für übergriffig. „Er nimmt jeder Person den Selbstrespekt. Dabei lebt jeder Mensch in seiner eigenen kleinen Welt.“ Er glaubte daran, dass es gut ist, den Menschen in seiner kleinen Welt zu lassen, damit er dort eines Tages selbst die Kraft finden kann, sie zu erweitern, aus ihr auszubrechen – so, wie es ihm selbst gelungen war, dem Tagträumer, der in der Fabrik arbeitete und sich dabei überlegte, welche Platte er sich wohl als nächstes kaufen würden.

Das wären schöne letzte Worte für diese Geschichte. Jedoch implodierte ab 1979 die Welt, die Curtis sich erschaffen hatte. Musik, Poesie und Literatur verloren an Kraft, die Epilepsie raubte ihm Energie und Zuversicht, die Nebenwirkungen der Medikamente, die man ihm verabreichte, stachelten womöglich die Depression an, unter der er litt – und von der seine Mitmusiker nichts ahnten, weil er, so Hook, „keinerlei Hinweise darauf gab, wie es ihm geht, wie er sich fühlt.“ Seine Beziehung zu Annik Honoré und das drohende Scheitern seiner Ehe mit Deborah belasteten ihn zusätzlich, ebenso wie die Aussicht, mit Joy Division nach dem Erfolg von Unknown Pleasures zu einem großen Act zu werden, an dem die Plattenindustrie mit ihren Agenten, Produzenten und Managern zu zehren begann. Die vielen negativen Umstände verknoteten sich zu einem unnachgiebigen Knoten.

„Ich fand Ians Texte brillant, doch ich war bis zuletzt überzeugt davon, er singt von etwas anderem als von sich selbst.“ – Stephen Morris.

Wer heute die letzten Texte hört, die Curtis Ende 1979 und noch Anfang 1980 geschrieben hat, der wird sich fragen, warum niemand in der Lage war, das absehbare dramatische Ende zu verhindern. Da ist die Bitterkeit von Love Will Tear Us Apart, die morbide Sehnsucht von Atmosphere mit der Zeile „Walk in silence, don’t turn away, in silence“, da ist der Abgesang auf seine Generation in Decades, mit dem Bild der jungen Männer, die an die Pforten der dunkelsten Kammern der Hölle klopfen. „Er meint ernst, was er singt“, sagte Annik Honoré in dieser Zeit zu Tony Wilson, dem Labelchef. Doch er und die Musiker aus der Band hörten nicht genau genug hin.

Was sie heute dazu sagen, klingt gleichzeitig erschreckend und verständlich. „Ich fand Ians Texte brillant, doch ich war bis zuletzt überzeugt davon, er singt von etwas anderem als von sich selbst“, sagt Drummer Morris. „Ich war tatsächlich so naiv, bis zuletzt zu denken: Wie brillant er doch darin ist, sich so sehr in die Köpfe anderer Personen zu versetzen.“ Doch längst waren, so wie beim Protagonisten des Romans Atrocity Exhibition, die äußeren und inneren Landschaften miteinander verschmolzen. Und vielleicht war es sogar so, wie Kafka es in der Erzählung In der Strafkolonie beschrieb, die Curtis liebte und der er das Stück Colony widmete: Der menschliche Leib selbst wird hier zum Schreibmaterial, Körper und Worte werden eins, einen Ausweg gibt es nicht: „A cruel wind that blows down to our lunacy/ And leaves him standing cold here in this colony.“

Text: André Boße | Fotos: Getty Images


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