Alles muss raus!

Alles muss raus!

Ab jetzt gibt es kein Zurück. Anfang August stellte man uns den Vinyl-Bus auf den Hof – TÜV-fertig und ziemlich unvollendet. Inzwischen arbeiten ein halbes Dutzend Handwerker mit Hochdruck an der Realisierung einer vermeintlichen Schnapsidee. Wieviel Potenzial in ihr steckt, offenbart sich spätestens im Keller unseres Herausgebers. Hier verrichten fünf Plattenwaschmaschinen ihre Arbeit: die Reinigung von 15. 000 LPs, unseres Inventars von morgen. Eine erste Wasserstandsmeldung.

Aus MINT Nr. 31

Als Michael Lohrmann die Platten im Rücken spürte, wurde ihm klar, dass die Sache außer Kontrolle geriet. Zum dritten Mal innerhalb von vier Wochen hatte unser Herausgeber raue Mengen Vinyl aus dem Kofferraum seines Autos ins heimische Plattenzimmer befördert. Hatte die schweren, randvollen Kisten durch den Flur und die schmale, gewundene Treppe hinunter ins Allerheiligste gewuchtet und sie dort eine nach der anderen gestapelt, zu nicht schwindelerregend hohen, aber beängstigend raumgreifenden Türmen. Nun lag ein weiterer, erfolgreicher Plattenankauf hinter – und eine dringend benötigte Phase der Rehabilitation in der Waagerechten vor ihm: Nichts wie ab auf die Couch!

Es muss an einem dieser Abende gewesen sein, als ihm die Idee mit dem Bus das erste Mal durch den Kopf schoss. Wahrscheinlich drehte gerade eine seiner neuesten Errungenschaften auf dem Plattenteller und untermalte die Gedankenspiele. Vielleicht war es das zweite Album der Krautrocker Cravinkel, Garden Of Loneliness, das 1971 auf dem Philips-Label erschienen war. Vielleicht Kate Bushs kaum weniger gesuchtes Comeback-Album Aerial in der 2005er EMI-Erstpressung oder, etwas gewöhnlicher aus Sammlersicht, eine deutsche Reissue von ZZ Tops Tres Hombres aus den 80ern. Eine dieser Platten, von denen Lohrmann gar nicht genug Exemplare haben kann – und sei es nur, um sie in seinem musikmissionarischen Eifer mal wieder jemandem zustecken zu können, der sie dringend kennenlernen sollte.

In einem solchen Moment also nahm der Vinyl-Bus vor Lohrmanns geistigem Auge Form an. Ein rollender Plattenladen, mit dem er eines Tages im Namen von MINT durchs Land reisen würde, überall dorthin, wo seine Dienste gefragt sein könnten: Städte, nicht mal immer die kleinsten, denen es seit langem oder sogar schon immer an einem Plattenladen fehlt. Was mit Gedrucktem funktioniert, muss doch auch mit Gepresstem klappen, sagte sich Lohrmann und dachte an die Bücherbusse aus seiner Kindheit. Die hatten damals den oft genug erfolgreichen Versuch gewagt, noch die entlegensten Winkel der Republik mit Weltliteratur zu versorgen. Hatten für einen wenn auch kurzen Moment die Art von kultureller Infrastruktur mitgebracht, die in Metropolen und Ballungsgebieten so selbstverständlich vorhanden ist, dass man sie dort kaum wahrnimmt, geschweige denn als Privileg zu schätzen weiß.

So ergab plötzlich alles einen Sinn. Das ständige Auf-die-Lauer- Legen, das Jagen und Sammeln, die vielen Fahrten, die Lohrmann in den Monaten zuvor unternommen hatte (und auch danach unternehmen würde), zunächst aus reiner Neugier, später fast schon aus Gewohnheit, wenn nicht gar Pflichtbewusstsein: Wann immer ihm das Angebot unterkam, irgendwo eine Plattensammlung anzukaufen, wurde er hellhörig und meist direkt aktiv. „Ich hatte mehr als einmal das Glück, der Erste vor Ort zu sein“, sagt er. „Der Vinyl- Boom, den wir seit Jahren erleben, ist ja an anderen nicht vorbeigegangen. Im Gegenteil: Wenn heute jemand in den einschlägigen Online-Portalen inseriert, dass er im großen Stil Schallplatten abzugeben hat, stürzen sich die Leute fast schon reflexartig darauf. Oft steht nicht mal dabei, um was für Platten es sich handelt, und trotzdem sind die Angebote nach kurzer Zeit bereits als reserviert gekennzeichnet oder direkt wieder entfernt. Das ist ja auch keine Überraschung. Die Aussicht, ein paar Kisten mit nicht näher definierten Platten zu bekommen und darin ein paar echte Schätze zu finden, zieht eigentlich jeden an, der mit Vinyl zu tun hat. Ob es sich nun um einen Händler oder Privatsammler handelt.“

Die goldene Mitte

Lohrmann selbst hatte sich irgendwann in eine Art Mischwesen aus diesen beiden Gattungen verwandelt: Sein Antrieb zum ständigen Ankaufen war aus rein persönlicher Leidenschaft für Schallplatten erwachsen – gleichzeitig war ihm bewusst, dass er in seinem Keller längst mehr Vinyl hortete, als er für sich in diesem Leben brauchen würde. „Ich würde da nicht von einer Sucht sprechen“, sagt er, „aber natürlich entwickelt so etwas eine Eigendynamik. Man fährt zu den Leuten hin, kommt ins Gespräch, verbringt teilweise Stunden bei ihnen und fährt am Ende – im besten Fall – mit neuen Platten und dem Gefühl nach Hause, dass beide Seiten ein gutes Geschäft gemacht haben. Das ist etwas ganz anderes, als mal eben online eine Platte in den Warenkorb zu legen und auf ,Checkout‘ zu klicken. Es bringt eine gewisse Emotionalität mit ins Spiel.“

In Bonn kaufte Lohrmann einem früheren Radiomacher einen guten Teil des Privatarchivs ab, Indie-Juwelen aus den 90ern in teils ungespieltem Zustand. Im Münsterland übernahm er die stattliche Kollektion eines gerade verstorbenen Wave- und Industrial-Fans von dessen Witwe, die ihn bei der Gelegenheit bekochte und die gemeinsame Lebensgeschichte erzählte. Und als er in Hamm einem gewissen „Punk-Peter“ beim erwünschten Ausdünnen des Plattenschranks half, entpuppte sich der als ein glühender Schalke-Anhänger, der kurz scherzhaft ins Grübeln kam, ob er dem BVB-Fan Lohrmann die Platten wirklich für den Transport in die „verbotene Stadt“ Dortmund überlassen sollte. Am Ende saßen die beiden Dauerkartenbesitzer bis zum späten Abend in der Küche und philosophierten getreu dem Motto „Getrennt in den Farben, vereint in der Sache“ über das zweitschönste Hobby der Welt. Nach Vinyl.

Vinyl-Bus

Der Begriff Hobby weckt in diesem Zusammenhang allerdings falsche Vorstellungen. Nicht weniger als 20. 000 Platten hatte Lohrmann nach drei Jahren regelmäßiger Ankauf-Touren angehäuft: eine mehr als ernstzunehmende Grundlage für das Inventar des Vinyl-Busses. Nur das Vehikel selbst fehlte nach wie vor. Ein mitteleuropäischer Allerweltsreisebus der Marke Kegeltour erschien zu profan. Wenn schon, denn schon, fand Lohrmann, berief ein Meeting mit der MINT-Redaktion ein und machte sich bald im Sinne aller auf die Suche nach einem dieser typisch gelben US-Schulbusse, wie sie auf unserer Seite des Atlantiks schon mal als bulliger Blickfänger vor Burger-Restaurants geparkt sind oder eine Nummer kleiner als Food Trucks durch die Gegend rollen. In drei Größen gibt es diese Busse. Die kleine würde dem Ziel eines gut bestückten Plattenladens auf Rädern nicht gerecht werden können, die große disqualifizierte sich schon durch das Leergewicht: Weder Lohrmann noch irgendwer sonst im MINT-Team bringt einen LKW-Führerschein mit, um ein solches Ungetüm über die Straßen zu lenken.

Das mittlere Modell sollte es also sein, hergestellt von der Blue Bird Corporation aus Georgia, einer Institution im School-Bus-Bau. Vergangenen Mai wurden wir dann fündig. Nicht etwa in Übersee, sondern bei KFZ Liebl in Neustadt an der Donau, eine Fahrtstunde nördlich von München gelegen. Es war ein Glücksfall, wie sich herausstellte: 13 Busse hatte der Spezialist für US-Importe im Fuhrpark, 12 davon aber in der falschen Größe. Die mittelgroße Variante komme ihm eher selten unter, erzählte uns Inhaber Alexander Liebl, ein ruhiger, zupackender Typ von Mitte 40. Einen hätte er aber gerade da. Baujahr 2003, ausrangiert, aus Florida. Den könne er TÜV-fertig machen. Gesagt, getan – obgleich die Abnahme durch den Prüfer seines Vertrauens nicht ohne Hindernisse verlief. Erst durchkreuzte ein Todesfall in der Familie die Reisepläne des deutschlandweit agierenden und heillos ausgebuchten TÜV-Gesandten, dann entschwand er planmäßig in den Urlaub. Anfang August aber hatte er endlich seines Amtes gewaltet, und Liebl schickte einen Mitarbeiter auf die Reise von Neustadt nach Dortmund – am Steuer unseres nun auch offiziell straßentauglichen Vinyl-Busses in spe. Einen Crashkurs in Sachen Steuerung und Handhabung später (das Fahrgefühl entspricht ungefähr dem eines Wohnmobils) parkten wir das weitgehend entkernte Gefährt auf dem Hof einer Autopolsterei bei Dortmund. Hier toben sich über die kommenden Monate Schreiner, Schlosser, Elektriker und Innenausstatter im und am Bus aus. Mehr demnächst an dieser Stelle.

250 Platten am Tag

Lohrmann hält unterdessen die Befüllung des Busses auf Trab. Von den 20. 000 Platten, die er während der vergangenen drei Jahre quer durchs Land erstanden hat, haben rund Dreiviertel den ersten Schritt überstanden – das Aussortieren nach Bewertung des Inhalts. Schließlich soll die musikalische Auswahl im Bus der im Heft gleichen. Schlager-Schnäppchen sind also ebenso wenig zu erwarten wie Trance- und Euro-Beat-Sampler. Stattdessen werden Platten aus allen erdenklichen Winkeln der Rockmusik in den Fächern stehen, Pop-Klassiker, Jazz-Favoriten und sicher auch der ein oder andere stilistische Farbsprenkler aus Blues, Reggae, Black Music und Electronica.

Hier beginnt der Spaß: Der entkernte Ex-Schulbus vor dem Innenausbau

Im Anschluss stellte Lohrmann die 15.000 Platten, die nach diesen Kriterien als grundsätzlich „bustauglich“ anzusehen sind, ein weiteres Mal auf den Prüfstand. Diesmal nach qualitativen Gesichtspunkten: Platten, deren Zustand „very good plus“ für Platte und Cover unterschreitet, sollen nur in absoluten Ausnahmefällen angeboten werden. „Es hätte ja keinen Sinn, ein Album mit starken Gebrauchsspuren mit auf die Reise zu nehmen, wenn man es anderswo problemlos in VG+ oder sogar neuwertig findet“, erzählt Lohrmann. „Eine Ausnahme mögen zum Beispiel Krautoder Psychedelic-Raritäten sein, die in Topzustand zu dreistelligen Preisen gehandelt werden. Wenn wir davon ein Exemplar haben, bei dem das Vinyl oder das Cover nicht allzu gut aussieht, man sich aber denkt, die Platte ist so selten, darüber wird sich trotzdem jemand freuen, dann spricht nichts dagegen, sie zum entsprechend günstigen Preis mit ins Sortiment zu nehmen. Die kostet dann natürlich keine 150 Euro, sondern vielleicht 30 oder 40. Und wer weiß, vielleicht findet auf diese Weise ja jemand, der das Album bereits besitzt, ein besser erhaltenes Cover zu seiner gut erhaltenen Platte. Oder umgekehrt.“

Apropos Preise: Wie sich eine solche Menge Platten realistisch auszeichnen lässt, darüber hat Lohrmann kaum weniger nachgedacht wie über die spätere Sortierung im Bus (nach Genres, innerhalb der Genres die Interpreten alphabetisch, innerhalb der Interpreten chronologisch). Seine Faustformel: Im Vinyl-Bus sollen die Platten immer noch etwas günstiger sein als beim jeweils günstigsten Discogs-Anbieter aus Deutschland im Moment der Preisermittlung – auf ein vergleichbar erhaltenes Exemplar bezogen. „Wenn eine runtergerockte Pressung von Iron Maidens Powerslave im Moment des Auspreisens ab 4,50 Euro zu haben ist, werden wir das mit einem wie aus dem Ei gepellten Exemplar natürlich nicht unterbieten können.“ Near mint hat nun mal seinen Preis. „Möglichst gut erhaltene Platten zum möglichst fairen Kurs“, fasst Lohrmann die Maxime zusammen.

Und dann zieht es ihn wieder in den Keller, zurück ans Werk. Die nächsten LPs warten auf ihr Bad. Fünf Plattenwaschmaschinen hat uns die Firma Gläss für die Reinigung des Bus-Sortiments zur Verfügung gestellt. Denn auch in diesem Punkt soll es keine Kompromisse geben: Jede einzelne Platte wird vor dem Kauf gesäubert, je nach Verschmutzungsart und -grad per Hand oder eben per Ultraschall auf der Gläss. Danach wandern die frisch gewienerten Stücke in brandneue gefütterte Innenhüllen (die Original-Sleeves werden selbstverständlich beigelegt). Lohrmann hat es überschlagen: An guten Tagen schafft er mit Unterstützung durch einen weiteren MINT-Mitarbeiter 250 Platten. Was das für 15. 000 Stück bedeutet, kann man sich ausrechnen – 60 Tage Dauerwaschgang auf fünf Maschinen. „Wenn man das alles ein paar Tage gemacht hat, entwickelt man vor allem eins: Respekt vor der Arbeit der Plattenhändler da draußen“, sagt Lohrmann. „Denn selbst wenn man sich ständig in Plattenläden rumtreibt, macht man sich doch kaum ein Bild davon, wie viel Mühe und Hingabe hinter all dem steckt. Zumindest wenn man es richtig anstellen will.“

Text: Dennis Plauk | Fotos: David Güntsch


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