Frag doch Dr. Mint! Folge 22: Hitze und Vinyl

Frag doch Dr. Mint! Folge 22: Hitze und Vinyl

„Wie schädlich sind hohe Temperaturen in den Fahrzeugen der Presswerke und Paketdienste für Vinyl?“
Jörg Göldner

Das Material, aus dem Schallplatten bestehen, gehört zu den sogenannten Thermoplasten. Bei etwa 57 Grad beginnt sich die Struktur des PVC/PVAc-Gemisches zu verändern, und es kommt zu Trennungen im molekularen Bereich, zum Beispiel durch Ausgasungen von Chlorwasserstoff. Prinzipiell sollte man also vermeiden, Platten über 45 Grad zu erhitzen, weil sie bereits ab dieser Temperatur beginnen, weich zu werden. Diese Kerntemperatur im Material ist schnell erreicht. Ließe man etwa eine nackte Platte im Sommer auf der Hutablage eines Autos liegen, können schnell 70 Grad oder mehr erreicht werden. Befindet sich die Platte aber in einer Hülle und wie beim Transport vom Presswerk üblich mit 10 bis 20 weiteren Platten in einem einwelligen Karton, von dem wiederum vier bis fünf in einem weiteren, doppelwelligen Umkarton gesteckt werden, gibt es eine ausreichende Isolierung gegen herrschende Temperaturen unseres kontinentalen Klimas – auch in einem heißen Sommer wie dem aktuellen. Plattencover und Kartons haben eine relativ geringe spezifische Wärmekapazität. Die Kartons werden darüber hinaus mit mehreren, ebenfalls isolierenden Gütern in LKW oder Kleinbussen transportiert, die ihrerseits ebenfalls isolierend wirken und etwa durch den Fahrtwind ausreichend gekühlt werden.

Soweit die Situation beim Transport vom Presswerk in den Handel. Kritischer kann es dann in Einzelfällen werden, wenn nur einzelne Platten in einfachen Kartons verschickt werden oder wenn Lieferungen zwischengelagert werden, etwa weil ein Stau oder andere unvorhersehbare Einflüsse, etwa Verzögerungen in Güterverkehrszentren, die Lieferungspläne durchkreuzen. Solche Zwischenlagerungen finden aber kaum und meistens nur über Nacht statt, weil sie für Speditionen teuer sind. Betrachtet man also die Risiken und generellen Gegebenheiten im heutigen Güterverkehr im (Sonnen-) Licht, kann man Entwarnung geben: Verformungen von Vinyl durch Hitzeeinwirkung treten beim Transport äußerst selten auf, auch wenn es immer ein kleines Restrisiko gibt. Das bleibt auch bestehen, wenn man beispielsweise Platten bei Mailordern kauft, die ebenfalls über Güterverkehrszentren, sogenannte Hubs, im Kurier- oder Speditionsgeschäft abgewickelt werden.

Doch warum werden Platten überhaupt wellig? Dieses Verhalten ist in hohem Maß auf die Etiketten zurückzuführen, die mit der Platte gepresst werden. Die Faserrichtung des Papiers bedingt unterschiedlich starke Ausdehnung längs und senkrecht zur Faser, abhängig von der Temperatur und Feuchtigkeit der Umgebung. Papier ist hygroskopisch, es zieht Feuchtigkeit an. Das Maß der Aufnahme von Feuchtigkeit in den Etiketten wird durch den sogenannten Taupunkt definiert – jenen Wert, bei dem das in der Umgebungsluft gebundene Wasser am Etikett kondensiert. Dadurch, dass Etiketten auf der A- und B-Seite selten in exakt gleicher Faserrichtung aufgebracht sind, dehnen sie sich unterschiedlich stark in unterschiedliche Richtungen aus. Diese Bewegung überträgt sich durch entsprechende Spannung auf die Platte – sie wird wellig. Da sich Etiketten und Vinyl bei gleicher Temperatur nicht gleichmäßig verformen und das Verhalten der Etiketten außerdem von ihrem Feuchtigkeitsgehalt abhängt, ist auch nicht sicher, dass sich Verformungen der Platte zurückbilden, wenn die Platte wieder abkühlt.

Natürlich treten solche Effekte stärker auf, wenn die Platte lediglich in ein Cover gesteckt ist. Eingeschweißte Platten in Kartons haben ein viel geringeres Risiko der Verformung. Der Rest ist simple Physik: Stehend gelagerte Platten werden sich langsamer erwärmen als liegende, weil sie der Wärmestrahlung weniger Fläche bieten. 180-Gramm-Platten sind weniger anfällig gegenüber den Spannungen, die Etiketten auslösen, als 140-Gramm-Platten. Sie werden aber, wenn sie einmal verformt sind, auch wesentlich schwerer zu glätten sein. Das Verhältnis von Etikettengröße und Material bei 7-Inches macht sie besonders anfällig für Verformungen, da der vergleichsweise großen Fläche der Etiketten wenig Vinyl gegenübersteht, das auftretende Spannungen im Zaum halten könnte.

Um wellige Platten wieder glatt zu bekommen, gibt es verschiedene Möglichkeiten – einige haben wir etwa im „Großen Vinyl-Ratgeber“ von Ausgabe 14 vorgestellt. Der Handel bietet mittlerweile ausgesprochen gut funktionierende Maschinen an, die die Temperatur und den nötigen Druck konstant halten, die aber auch relativ teuer sind. Für weniger wertvolle Platten kann man sich auch selbst behelfen, indem man die Platte zwischen zwei dicke Glasplatten legt und im Ofen bei etwa 40 bis 45 Grad ein paar Stunden „backt“. Dr. Mint selbst legt seine welligen Platten ganz pragmatisch über Nacht unter den Wohnzimmer-Teppich und lässt die Arbeit die Fußbodenheizung erledigen. Das ist definitiv keine audiophile Methode, die aber bisher ausgesprochen erfolgreich war. Und übrigens: Wellige Platten sind vielleicht nicht schön anzusehen, aber rein technisch betrachtet sollte jeder Tonarm in der Lage sein, einen Höhenschlag von bis zu 4 Millimetern problemlos auszugleichen. Wenn man sich daran stört, dass der Arm beim Anspielen eine muntere Berg-und-Talfahrt hinlegt, kann man ja einfach woanders hin schauen oder die Musik mit geschlossenen Augen genießen.

Aus MINT Nr. 22 / 09. August 2018

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